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Wie konnten wir all das vergessen?

 

Ein Roman, den wir in unserer heutigen Zeit bitter nötig haben: Robert Seethaler gibt uns in seinem, 2014 erschienenen, Meisterwerk „Ein ganzes Leben“ Einblick in eine Zeit, zu der die Menschen noch ohne iPhone und anderen modernen Schnick-Schnack ausgekommen sind und schafft es dabei, den Leser, Zeile für Zeile, emotional zu berühren.

 

Alles begann damit, dass der junge Andreas Egger, Anfang des 20. Jahrhunderts, im Alter von wahrscheinlich 4 Jahren – man kennt seinen genauen Geburtstag nicht – vom gewaltbereiten Bauern Kranzstocker aufgenommen wird. Von nun an lebt er fast sein ganzes Leben lang in einem kleinen Dorf im Tal eines großen Gebirges, wo er endlich die wahre Erfüllung seines Lebens gefunden hat, nämlich die Natur. Egger wächst zu einem starken, mutigen und reifen Mann heran, stellt sich dem Bauern, der ihn dauerhaft schikaniert hat, und findet schon bald seine einzig wahre Liebe: die junge, handwerklich begabte Marie, die er schließlich geheiratet hat. Allerdings war dies nur einer der wenigen Lichtblicke in seinem unglaublich harten Leben, der jedoch schnell vergangen ist – Marie starb. Andreas Eggers Leben ist geprägt von permanenten mentalen und physischen Belastungen. Dies prägt sich tief in den Kopf des Lesers ein, denn durch den besonders ruhigen Schreibstil von Seethaler fokussieren wir uns vor allem auf unsere visuelle Vorstellung, welche durch die beschreibende Art der Sprache stark intensiviert wird. Er arbeitet tags und nachts, trotz einer körperlichen Behinderung, wobei er sich, um beim Seilbahnbau Geld zu verdienen, sogar in Lebensgefahr bringen muss. Sein ganzes Leben hat sich komplett gewandelt, als er verpflichtet wurde, im Zweiten Weltkrieg für Deutschland in der besetzten Sowjetunion, zu dienen. Nach acht Jahren Kriegsgefangenschaft und teuflischen Bedingungen kehrt er in sein Heimatdorf zurück, wo sich alles verändert hat und er sein Leben so weiterlebt, wie üblich.

 

Was diesen Roman nun so meisterlich macht, sind die Spuren, die Seethaler in den Köpfen der Leser hinterlässt. Mit seinem eher stillen und leisen, doch enorm klingenden und bindenden Schreibstil, zeigt er, was wirklich ein wahrhaftiges ganzes Leben ausmacht und wie auch die unschönen Momente ein wichtiger Bestandteil sind: Dies wird besonders gut bei der Darstellung von Egger und allem, was um ihn herum geschieht, umgesetzt, denn sobald er sich in einer zufriedenen, positiven Situation befindet, ändert sich diese innerhalb von nur wenigen Buchseiten. Es war ihm lange möglich die Zeit mit Marie, die Arbeit in den Bergen oder seine Ruhe im Leben zu genießen, bis schlagartig Marie verstorben ist, er zum Wehrdienst verpflichtet wurde oder er wegen des enormen Lärms der Kinder umziehen musste.

 

Seethaler zögert dabei nicht und erinnert den Leser immer wieder an DAS Thema, das man eigentlich immer verdrängt, dies jedoch zu Unrecht: den Tod. Man realisiert, wie leicht unser Leben im Vergleich zu dem des Protagonisten ist und hinterfragt, weshalb man trotzdem wahrscheinlich unglücklicher ist als er. So bekommen wir wirklich beigebracht, dass alles vergänglich ist, auch das Leben, und dass man es nicht verschwenden darf. Was besonders bewundernswert an Andreas Egger ist und durch den besonderen Schreibstil Seethalers untermalt wird, ist wie nüchtern und fast schon gleichgültig er auf fast alle Ereignisse, die die meisten aus der Ruhe bringen würden, reagiert. Es gab fast keinen Moment, in dem er sich wirklich in Gedanken an den Tod von Marie verfängt und lange trauert, obwohl dies der größte Schicksalsschlag seines Lebens ist. Stattdessen konzentriert er sich auf die Gegenwart, versucht, das Beste aus seinem Leben zu machen und sich nicht durch derartiges verunsichern zu lassen.

 

Im Verlauf der Jahre zeigt sich für Egger immer mehr, wie sehr er sich mit der Natur verbunden fühlt. Deshalb ist er sogar bereit, schwerste Arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen zu verüben, obwohl er eigentlich nicht körperlich dazu im Stande wäre, und zwar nur, weil diese im Gebirge – seinem Zuhause – stattfinden und er die physische Anstrengung liebt. Andere haben sich gefragt, ob er verrückt sei, jedoch hat er einfach nur das getan, was andere nicht gemacht haben: Er hat so gelebt, wie er es immer gewollt hat und hat ein glückliches und erfülltes Leben gehabt. Es fasziniert besonders, dass man sich mit Egger sofort identifizieren kann und er direkt sympathisch wirkt. Weshalb ist das so überraschend? Seethaler stellt ihn in seinem Werk wahrscheinlich als perfektes Gegenstück zu unserer heutigen Vorstellung eines normalen Menschen mit normalem Verhalten dar. Heutzutage bemüht sich wirklich ausnahmslos jeder um das Pflegen des Zusammenhalts und sozialer Bindungen zu anderen Gleichgesinnten. Denn wer möchte heute bitte ein Außenseiter sein und sich nur auf sich konzentrieren? Vergleichsweise hat Egger fast kaum Kontakt zu anderen Menschen, wodurch sich die Liebe zu ihm selbst entwickelt und intensiviert. Vielleicht möchten wir ja genau das und sehnen uns danach, wie weit er es im Leben gebracht hat.

 

Insgesamt kann man für den Roman von Robert Seethaler eine wahre Leseempfehlung aussprechen, denn genau dieser Einblick in die Lebensphilosophie des Autors lässt uns unsere Lebensweise, in einer von Social Media und Internet geprägten Zeit, bei der man leicht sich selber und das eigene Leben vergisst, überdenken und positiv verändern. Wie unsere heutige Gesellschaft all diese Werte, an die wir hier wieder erinnert werden, über die Zeit hinweg vergessen und verdrängen konnte, bleibt jedoch immer noch ein Rätsel.

 

von Alex Spalteholz

 

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